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Intimitätsprobleme nach sexuellem Missbrauch

Die Kinoleinwand ist nicht real. Wir schauen uns Verfolgungsjagden mit bombastischen Explosionen und knappen Fehlschüssen als pure Unterhaltung an, und denken hierbei nicht daran, dass uns so etwas ähnliches auf dem Heimweg vom Kino passieren könnte. Aber diese Auffassung der Realität ändert sich oft, wenn es um Sex geht. Sexuelle Intimität wird in den Medien als ein leidenschaftliches Abenteuer und Feuerwerk dargestellt, bei dem die Darsteller unabhängig ihrer Vergangenheit unvergessliche und lebensverändernde Befriedigung erleben. Diese Darstellung ist genauso unrealistisch wie die dramatische Verfolgungsjagd im Film, dennoch neigt die Gesellschaft dazu, sie als Normalität zu betrachten. Das wiederum kann dazu führen, dass man das Gefühl hat, zu versagen, wenn die eigene sexuelle Intimität nicht dem fiktiven Ideal entspricht. In Wirklichkeit kann uns die sexuelle Intimität zu verschiedenen Zeitpunkten in unserem Leben Mühe bereiten. Das kann an verschiedenen Ursachen liegen, z. B. an der Umgebung, Medikamenteneinnahme, gesundheitlichen Beschwerden, Stress, Beziehungszustand, kulturellen Einflüssen, Emotionen und Traumata. Auch wenn wir auf den ersten Blick keine Verbindung zwischen einem Kindheitstrauma und Problemen mit der sexuellen Intimität im Erwachsenenalter erkennen, können die beiden eng miteinander verbunden sein.

Kann ein Trauma zu Intimitätsproblemen führen? 

Ein Trauma ist eine Erfahrung, die sich körperlich, emotional, verhaltensmäßig und beziehungsmäßig auf eine Person auswirkt. Bessel van der Kolk erklärt in seinem Buch Verkörperter Schrecken,1: „Trauma ist weit mehr als ein Ereignis der Vergangenheit. Die Emotionen und körperlichen Empfindungen, die sich während des Traumas eingeprägt haben, werden nicht als Erinnerungen, sondern als zerstörerische körperliche Reaktionen in der Gegenwart erlebt.“ Da Traumata sowohl im Gehirn als auch im Körper gespeichert werden, ist es nur logisch, dass sich der sexuelle Missbrauch im Kindesalter auf ein gesundes sexuelles Intimleben im Erwachsenenalter auswirken kann. Was sich wie eine unmögliche Beziehung zu körperlicher und emotionaler Intimität anfühlen mag, ist eine verständliche und normale Reaktion auf die Grenzverletzung und den Vertrauensbruch durch sexuellen Missbrauch. Körperkontakt und Sexualtrieb können mit schwierigen Emotionen und traumatischen Reaktionen verbunden sein. Es kann für Betroffene sehr verwirrend sein, wenn ihr Körper während des Missbrauchs erregt war, und ihnen oftmals das Gefühl geben, dass ihr Körper sie hintergangen hat, was wiederum ihr Verhältnis zu Intimität erschwert. 

Es ist äußerst wichtig zu verstehen, dass körperliche Reaktionen auf Berührungen oder sexuelle Stimulierungen keineswegs ein Indikator für gewünschte sexuelle Erregung sind. Eine Reaktion der Genitalien bedeutet weder Lust noch Wohlbefinden, und sie bedeutet auch keine Einwilligung. Es ist lediglich eine Reaktion des Körpers, wie er nun einmal beschaffen ist. Der Begriff dafür ist arousal non-concordance, also eine Nichtkonformität der Erregung. In ihrem TED-Vortrag The Truth About Unwanted Arousal,” (Die Wahrheit über ungewollte Erregung) erklärt die Sexualforscherin, Pädagogin und Autorin Emily Nagoski, dass „Nichtkonformität der Erregung bei jedem emotionalen und motivationsbezogenen System auftritt, das wir in uns haben. Wenn mir das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn ich in einen wurmstichigen Apfel beiße, fragt man mich dann: Du hast Nein gesagt, aber dein Körper hat Ja gesagt?“2

Wenn dein Körper reagiert hat, bedeutet das nicht, dass du den Missbrauch mochtest, wolltest, verdient oder ihm zugestimmt hast. Da du noch im Kindesalter oder im Teenageralter warst, hättest du niemals zustimmen können. Du hast dich vielleicht um die Person, die den Missbrauch verübt hat, gekümmert, warst von ihr abhängig, hast ihre Aufmerksamkeit gesucht, hast über den Missbrauch geschwiegen, Alkohol oder Drogen konsumiert, hattest das Gefühl, in einer Beziehung mit ihr zu sein, oder hast Geschenke von ihr angenommen. All das ist trotzdem kein Einverständnis.

Häufige Symptome bei Betroffenen   

Nicht alle Betroffene haben die gleichen Symptome, die Folgen des sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit sind, auch gibt es kein bestimmtes Verhalten oder Emotion, die automatisch mit diesem Trauma in Verbindung gebracht werden. Es gibt jedoch häufige Symptome im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch, und die Sexual- und Beziehungsexpertin Wendy Maltz hat die zehn wichtigsten identifiziert.3

  1. Vermeidung, Angst oder mangelndes Interesse an Sex 
  2. Sex als Pflicht ansehen
  3. Negative Gefühle wie Wut, Ekel oder Schuldgefühle bei Berührungen
  4. Schwierigkeiten, erregt zu werden oder Gefühle zu empfinden 
  5. Emotional distanziert oder nicht anwesend beim Geschlechtsverkehr
  6. Aufdringliche oder beunruhigende Sex-Gedanken und -Vorstellungen
  7. Zwanghaftes oder unangemessenes Sexualverhalten
  8. Schwierigkeiten beim Eingehen oder Aufrechterhalten einer intimen Beziehung
  9. Vaginaler Schmerz oder Orgasmusstörungen
  10. Erektions- oder Ejakulationsbeschwerden

Für viele ist es aufgrund ihrer Vergangenheit nachvollziehbar, dass sie sich nicht auf sexuelle Handlungen einlassen wollen oder automatische Reaktionen erleben.

Ein Symptom, das bei Betroffenen zu massiver Verwirrung und Scham führen kann, ist zwanghaftes oder unangemessenes Sexualverhalten. Bitte beachte, dass der Begriff „unangemessen“ nicht auf dem Urteil anderer über deine Sexualität beruht, sondern vielmehr persönlich ist und sich auf sexuelle Verhaltensweisen bezieht, die du als unkontrolliert empfindest, die dir Kummer bereiten, schwerwiegende Folgen haben und/oder dein körperliches und emotionales Wohlbefinden beeinträchtigen. Doug Braun-Harvey und Michael A. Vigorito definieren unkontrolliertes Sexualverhalten als "ein sexuelles Gesundheitsproblem, bei dem sich die konsensuellen sexuellen Triebe, Gedanken oder Verhaltensweisen einer Person nicht unter Kontrolle anfühlen".4 Manche bezeichnen dieses problematische oder unkontrollierte Sexualverhalten auch als Hypersexualität.5 Unkontrolliertes Sexualverhalten ist oft Ausdruck eines unbehandelten Traumas oder Missbrauchs.6 Da der Zusammenhang zwischen Trauma und unkontrolliertem Sexualverhalten oft sehr komplex ist, gelingt es am besten, die Kontrolle über missbrauchsbedingtes Sexualverhalten zu erlangen, wenn man von einem sachkundigen, sexpositiven Traumatherapeuten betreut wird.

Das Wiederfinden seiner Sexualität 

Das Wiederfinden der eigenen Sexualität kann sich überfordernd anfühlen. Zu lernen, sich bei intimen sexuellen Handlungen sicher zu fühlen, ist ein Prozess und geschieht nicht von heute auf Morgen. Zu den ersten Schritten auf dem Weg zum sexuellen Heilen gehört das Üben, sich in seinem eigenen Körper sicher und präsent zu fühlen. Das ist besonders wichtig, wenn du unter Dissoziation leidest. Dissoziation ist die Abkopplung von deinen Sinnen, Gedanken, Gefühlen, deiner Identität, deinem Verhalten oder deinen Erinnerungen. Die Depersonalisation ist eine Form der Dissoziation, bei der eine Person das Gefühl hat, ihren Körper verlassen zu haben und ihn aus der Ferne zu betrachten. Dissoziation, einschließlich Depersonalisation, ist bei sexuellem Missbrauch weit verbreitet. Auf diese Weise versucht das Gehirn, sich zu schützen und sich von den Geschehnissen zu trennen. Da Traumareaktionen mit den Gehirnbereichen verbunden sind, die nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden, kann die Dissoziation in Stresssituationen bis ins Erwachsenenalter andauern. Sexuelle Intimität kann ein Trigger traumatischer Erinnerungen sein. Auch wenn der/die Betroffene mit jemandem zusammen ist, den er/sie liebt und dem er/sie vertraut, können automatische Reaktionen, die mit Berührungen verbunden sind, die Kontrolle übernehmen, sodass der/die Betroffene sich wie betäubt und abgekoppelt fühlt, oder als würde er/sie aus seinem/ihrem Körper schweben.

Wie kann Achtsamkeit das sexuelle Heilen unterstützen? 

Achtsamkeit bedeutet, dem gegenwärtigen Moment bewusst, aufmerksam und neugierig zu begegnen. Sie ist das Gegenteil der Dissoziation, denn sie konzentriert sich auf das Hier und Jetzt. Bei der Achtsamkeit nimmst du alle fünf Sinne wahr und bist in deinem Körper anwesend. Unabhängig davon, ob wir traumatische Erfahrungen gemacht haben oder nicht, wir alle neigen dazu, in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu leben. Wir springen zwischen diesen beiden Welten hin und her und achten kaum auf die Gegenwart. Achtsamkeit hilft dir, im Hier und Jetzt geerdet zu bleiben. Die Praxis der Achtsamkeit zur Unterstützung sexuellen Heilens beginnt nicht erst in körperlich intimen Situationen, sondern im Alltag.

Achtsamkeit besteht aus drei Komponenten: Intention, Aufmerksamkeit und Einstellung. Intention ist die bewusste Entscheidung, im gegenwärtigen Moment zu leben. Es ist die Entscheidung, Achtsamkeit zu praktizieren und sich dem Hier und Jetzt zu widmen. Bei der Aufmerksamkeit, die häufig mit Achtsamkeit in Verbindung gebracht wird, geht es darum, wahrzunehmen, was in der unmittelbaren Gegenwart geschieht, einschließlich Körperwahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Umgebung. Einstellungen spielen eine wichtige Rolle, denn sie ermöglichen es der Person, das, was sie erlebt, durch eine nicht wertende, nicht drängende Linse der Neugier, Freundlichkeit und des Mitgefühls zu betrachten.

Achtsamkeit im Alltag 

Meditation und achtsames Atmen werden oft mit der Achtsamkeit in Verbindung gebracht und sind wirkungsvolle Übungen, aber Achtsamkeit kann auch bei Routineaufgaben im Alltag wie Putzen, Spazierengehen oder Zähneputzen praktiziert werden. Wenn du spazieren gehst, nimm das Knirschen der Blätter unter deinen Füßen wahr, die Kälte einer vorbeiziehenden Brise, das Blau des Himmels, usw. Sobald deine Gedanken abschweifen, nimm den Gedanken wahr und lenke deinen Fokus sanft auf den gegenwärtigen Spaziergang.

Die Übung bei Aktivitäten mit wenig Risiko kann dir helfen, die Fähigkeiten zu entwickeln, die du in potenziell schwierigeren sexuellen Situationen einsetzen kannst. Achtsamkeit beim Duschen zu üben, kann zum Beispiel ein guter Zwischenschritt auf dem Weg zur Achtsamkeit im Intimleben sein. Du kannst die Beschaffenheit der Seife auf deiner Haut, den Geruch des Shampoos oder das Geräusch des heißen Wassers, das auf dein Haar prasselt, wahrnehmen. Für Betroffene, die mit Dissoziation, negativen Emotionen im Zusammenhang mit ihrem Körper oder dem Gefühl, von ihrem Körper getrennt zu sein, zu kämpfen haben, kann dies schwieriger sein als z.B. mit Achtsamkeit ein Zimmer zu kehren. Bedenke nun die Rolle der Einstellung und nimm mit Freundlichkeit und Neugierde wahr, was du erlebst. Achtsamkeit ermöglicht es dir, einen sicheren Raum zu schaffen, indem du beobachten kannst, welche Gedanken und Gefühle auftauchen, ohne zu urteilen und ohne von ihnen überrollt zu werden, egal in welcher Situation.

Achtsamkeit während sexueller Erlebnisse 

Die unvoreingenommene Wahrnehmung der eigenen Gedanken ist ein wesentliches Element der Achtsamkeitspraxis bei sexuellen Erfahrungen. Forschungen zu einer achtsamkeitsbasierten Intervention mit Frauen, die eine Vorgeschichte von sexuellem Kindesmissbrauch und gleichzeitig sexuellen Stress erlebten, ergaben, dass die Achtsamkeitspraxis eine signifikante Zunahme der Erregungskonkordanz und eine signifikante Abnahme des sexuellen Stresses zur Folge hatte.7 Die Forscher vermuten, dass ein Grund für dieses Ergebnis darin liegen könnte, dass die Teilnehmerinnen lernten, belastende Gedanken und Gefühle, die mit der sexuellen Reaktion oder der Missbrauchsgeschichte verbunden sind, vorsichtig wahrzunehmen sowie diese Gedanken und Gefühle kommen und gehen zu lassen, anstatt sie zu verhindern zu wollen. Eine achtsame Herangehensweise während sexueller Aktivitäten mit oder ohne Partner ermöglicht es dir, in der Gegenwart zu bleiben und ein breiteres Spektrum an Reaktionen wahrzunehmen, einschließlich derer, die schwierig oder angenehm sind, und deinen Fokus entsprechend zu lenken.

So könnte ein Beispiel für das Üben von Achtsamkeit während der sexuellen Aktivität in der Partnerschaft so aussehen:
„Ich habe täglich die Achtsamkeit geübt und werde sie versuchen, während ich mit meinem Partner körperlich intim bin auszuprobieren (Intention). Ich spüre die angenehme Wärme des Raumes, höre im Hintergrund mein Lieblingslied, bin voller Hoffnung und merke, wie mein Körper auf die sanfte Berührung reagiert (Aufmerksamkeit). Mein Magen hat sich gerade verkrampft, ein Bild taucht in meinem Kopf auf und ich empfinde Scham. Das ist interessant, aber es ist nur eine Reaktion, nichts mehr und nichts weniger. Ich hole tief Luft und stelle mir vor, wie die Scham, das Bild und die Anspannung wie eine Wolke von mir fortschweben (Einstellung). Ich bewege die Hand meines Partners, verändere meine Position und konzentriere mich auf die Gegenwart - die Augenfarbe, das Gefühl der Sicherheit und die Sanftheit der Haut (Aufmerksamkeit).“

Entdecke, was für dich am besten ist 

Es ist nicht leicht, den Einfluss von sexuellem Kindesmissbrauch auf seine Sexualität zu bewältigen. Der Weg kann sich komplex, überfordernd und frustrierend anfühlen. Genau wie das Üben der Achtsamkeit außerhalb des Schlafzimmers legt die Aufarbeitung deines Traumas mit Hilfe eines Therapeuten oder einer Selbsthilfegruppe den Grundstein für die Bewältigung sexueller Symptome im Zusammenhang mit dem Missbrauch in deiner Kindheit. Der Weg zu einer gesunden Sexualität kann darin bestehen, dass du deine sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen änderst, neue Arten der Berührung entdeckst und ein gesundes sexuelles Selbstkonzept entwickelst.3 Dazu gehört auch, dass du deine Vorlieben und Abneigungen kennenlernst, das Einverständnis für dich neu definierst und herausfindest, wie du deine Wünsche und Bedürfnisse anderen gegenüber selbstbewusst kommunizieren kannst. Es ist völlig in Ordnung, sich Zeit zu lassen. Höre auf deinen Körper und sei in ihm präsent. Du kannst selbst bestimmen, wie eine gesunde Sexualität für dich aussieht. Und in diesem Prozess findest du vielleicht sogar ein paar filmreife Feuerwerke.

Über den Autor

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Betsy Kanarowski , PhD, LCSW,

PROGRAMMDIREKTORIN
Betsy engagiert sich für, Einzelpersonen, Familien und Gemeinden und unterstützt sie die vielen Aspekte des Heilens von sexuellen Traumata zu verstehen und zu bewältigen. Betsy ist seit 2015 bei Saprea und ist eine erfahrene Therapeutin, Trainerin und Pädagogin mit mehr als 25 Jahren Erfahrung im Bereich der psychischen Gesundheit. Betsy erhielt ihren Doktortitel in Sonderpädagogik von der University of Utah, ihren Master-Abschluss in Sozialarbeit von der University of Denver und ihren Bachelor-Abschluss in Sozialarbeit von der University of Wyoming. Sie ist eine lizenzierte klinische Sozialarbeiterin (L.C.S.W.) und zertifizierte Sexualtherapeutin. Sie liebt die freie Natur, das Reisen, das Lesen und die Zeit, die sie mit ihrer Familie und ihrem unglaublich verwöhnten Hund verbringen darf.