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Es besteht Hoffnung nach sexuellem Missbrauch durch Geschwister 

Ein sehr kleiner Schlüssel kann ein großes Tor öffnen.

—Charles Dickens

„Vista Balboa Krisenzentrum, hier spricht Katie. Wie kann ich Ihnen heute helfen?“

Mit einem solchen Anruf hatte ich an einem sonnigen Donnerstagnachmittag nicht gerechnet, als ich meine Schicht im Krisenzentrum arbeitete. Obwohl ich schon viele Geschichten von Erwachsenen gehört hatte, die als Kinder traumatisiert worden waren, war der tiefe Schmerz, den ich bei der Person am anderen Ende der Leitung spürte, besonders herzzerreißend. Sie hatte schweren sexuellen Missbrauch durch einen Geschwisterteil erlebt, und heute war es das erste Mal seit über 30 Jahren, dass sie jemandem davon erzählte.

Als wir über die Erfahrungen dieser Person sprachen, äußerte sie tiefe Verwirrung und Scham über den Missbrauch, über ihr Geschwisterkind und vor allem über sich selbst. Zögernd beschrieb sie, dass sie sowohl gegenüber dem Missbrauch als auch gegenüber ihrem Geschwisterkind gegensätzliche, widersprüchliche und verwirrende Gefühle empfand. Als die Betroffene später in ihrer Kindheit erfuhr, dass es absolut tabu war, mit Geschwistern sexuellen Kontakt zu haben, hatte sie das Gefühl, dass sie für das Geschehene verantwortlich war. Das hatte sie in den langen, einsamen Jahren seit ihrer Kindheit davon abgehalten, Hilfe zu suchen. Sie kämpfte ständig mit Fragen der Machtsituation und des Gleichgewichts in ihrer Beziehung und hatte enorme Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen. Sie hatte in über 30 Jahren noch nie eine feste Beziehung geführt.

Wenn du sexuellen Missbrauch unter Geschwistern erlebt hast, bist du nicht allein.

Auch wenn es zahlreiche praktische Ressourcen gibt, die du nutzen kannst, um von sexuellem Missbrauch durch Geschwister zu heilen, kann die Erkenntnis, dass du nicht allein bist und dass deine Erfahrungen valide sind, ein wichtiger erster Schritt sein. In diesem Beitrag möchte ich dich ein Stück weit begleiten, indem ich dir von einigen Erfahrungen erzähle, die Betroffene von sexuellem Missbrauch unter Geschwistern teilen.

Ambivalenz

Ambivalenz, also zwiespältige, widersprüchliche Gefühle gegenüber jemandem oder etwas, ist bei Betroffenen von sexuellem Kindesmissbrauch eine häufige Erfahrung - vor allem bei denen, die Missbrauch durch ein Geschwisterkind erlebt haben. So wie das Wetter gleichzeitig regnerisch und sonnig sein kann, sind Menschen in der Lage, mehrere Gefühle zugleich zu empfinden - auch solche, die gegensätzlich erscheinen, wie Liebe und Hass.

Diese Gefühle können sehr verwirrend oder isolierend sein. Für viele können diese widersprüchlichen Gefühle zu zusätzlichen Schuldgefühlen führen, wenn sie positive Gefühle gegenüber dem Missbrauch oder ihren Geschwistern haben. Daniela* z. B. wollte unbedingt, dass ihr Stiefbruder sie mag, weshalb sie bereitwillig auf seine missbräuchlichen und demütigenden Forderungen einging. Als Erwachsene ist Daniela wütend und gekränkt über die verletzenden Handlungen ihres Stiefbruders und fühlt sich hintergangen. Andererseits sehnt sie sich immer noch nach seiner Anerkennung und ringt mit dem Gefühl, dass der Missbrauch ihre Schuld war, weil sie nachgegeben und nie darum gebeten hat, dass er aufhört. Danielas Zwiespalt gegenüber ihrem Bruder und ihre Selbstzweifel machten es ihr viele Jahre lang schwer, Hilfe zu suchen oder mit jemandem über den Missbrauch zu sprechen.

Manche Betroffene empfinden diese Ambivalenz gegenüber ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen, manchmal sogar intensiver als gegenüber ihren Geschwistern. Obwohl sexueller Missbrauch durch Geschwister auch in Familien mit aufmerksamen und liebevollen Eltern vorkommen kann, ringen viele Betroffene mit ihren Gefühlen gegenüber den Eltern, die vielleicht abwesend waren, mit ihren eigenen Beziehungsproblemen beschäftigt waren, einige Geschwister gegenüber anderen bevorzugten oder schlecht reagierten, als der Missbrauch ans Licht kam. Die Forschung zeigt, dass es selbst normalen Eltern schwerfällt, angemessen einzugreifen, wenn es zu Missbrauch zwischen ihren Kindern kommt. Wenn keine angemessenen Maßnahmen ergriffen werden, kann dies bei dem betroffenen Kind Verbitterung und Schmerz auslösen.1

Charlottas* Eltern waren z. B. den Großteil ihres Lebens ein großartiges Beispiel für Liebe und Fürsorge, aber kehrten den Missbrauch von Charlotta unter den Teppich, weil sie meinten, dass es zu viel Unruhe in der Familie verursachen würde. Infolgedessen fühlt sich Charlotta von ihrer Familie sowohl geliebt als auch ungeliebt, und diese Ambivalenz verunsichert sie im Umgang mit ihrer Familie.

Da der Körper automatisch auf bestimmte Sinneseindrücke oder Situationen reagiert, sind viele Betroffene verwirrt darüber, wie ihr Körper auf den Missbrauch reagiert hat, und können auch im Erwachsenenalter noch sexuelle Gedanken oder Fantasien in Bezug auf diese Erfahrungen haben. Dies kann zu einem konfliktreichen Verhältnis zu körperlicher Intimität und zu Schamgefühlen führen. Manche Betroffene haben auch das Gefühl, dass ihr Körper positiv auf die sexuellen Berührungen reagiert hat und sie den Missbrauch mochten oder verdient haben - Keiner verdient es, missbraucht zu werden.

Wenn du widersprüchliche oder ambivalente Gefühle gegenüber deinem Missbrauch, deinem Geschwisterteil, deiner Familie oder sogar dir selbst hast, bist du nicht allein. Du bist weder gut noch schlecht, weil du bestimmte Gefühle oder Reaktionen hast, und diese Gefühle und Reaktionen bestimmen nicht, wer du bist. Du kannst hier mehr über deine Emotionen erfahren, ein Gespräch mit einem ausgebildeten Therapeuten kann dir helfen, deine Erfahrungen besser zu verstehen und aufzuarbeiten.

Macht und Kontrolle 

Sexueller Missbrauch unter Geschwistern entwickelt sich oft im Laufe der Zeit. Was in manchen Situationen als nicht missbräuchliches Spiel beginnt, kann zu Missbrauch eskalieren, vor allem wenn Zwang, Macht oder Gewalt zu bestimmenden Merkmalen werden. Johannes* wurde von seinem älteren Bruder sexuell missbraucht, nachdem dieser Ärger mit seinen Eltern hatte und auf diese Weise die Kontrolle über ihn zurückgewann. Als Erwachsener sorgt Johannes dafür, dass er in all seinen Beziehungen derjenige ist, der die Macht und die Kontrolle hat, und wird leicht frustriert, wenn er das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren. Insgeheim empfindet Johannes tiefe Scham, Verlegenheit und Verlust über seine Kindheit und die Beziehung zu seinem Bruder, die er gerne gehabt hätte, statt jene, die er hatte.

Es liegt in der Natur von sexuellem Missbrauch durch Geschwister, dass die Schuld häufig zu Unrecht auf den/die Betroffene/n geschoben wird. Manche Betroffene werden von den Geschwistern (oder anderen) überzeugt, dass es ihre Schuld war oder dass sie, wie bereits erwähnt, weil ihr Körper auf eine bestimmte Weise reagierte oder weil sie sich fügten, dafür verantwortlich waren. Ähnlich wie bei Johannes ging es auch bei Andrea* um Kontrolle und Manipulation durch ihr Geschwisterkind, das Andrea ebenfalls einredete, sie sei schuld. Im Gegensatz zu Johannes findet sich Andrea in ihren erwachsenen Beziehungen in einer passiven Rolle wieder, selbst in Momenten, in denen sie versucht, sich durchzusetzen. Ihr Gefühl der Machtlosigkeit führt in intimen Momenten mit ihrem Partner oft zu Erstarrung. Ähnlich wie Johannes empfindet sie insgeheim tiefe Scham, Verlegenheit und Trauer über ihre Kindheit.

Wenn du in deinen Beziehungen oder anderen Bereichen deines Lebens mit Macht und Kontrolle kämpfst, bist du nicht allein. Deine wahre Stärke liegt in dir selbst, und du hast die Fähigkeit, zu heilen. Du verdienst es, ausgeglichene und sichere Beziehungen zu deinen Mitmenschen zu haben. Hier erfährst du mehr über Beziehungen. Du kannst auch mit einem Therapeuten, der sich auf Beziehungen spezialisiert, deine Beziehungsfähigkeiten weiter ausbauen.

Hoffnung und Vertrauen 

Hoffnung ist die Fähigkeit das Licht trotz der Dunkelheit zu sehen.

—Desmond Tutu

Stell dir vor, dass eine bestimmte Tür in deinem Haus immer wieder klemmt, wenn du sie öffnen willst. So fängst du an, eine andere Tür zu benutzen und hörst schließlich ganz auf, die Tür zu benutzen, die ständig klemmt. Wenn dein Vertrauen missbraucht wird, ist es ähnlich wie bei der klemmenden Tür. Mit der Zeit lernst du eventuell, der Person oder Institution nie wieder zu vertrauen.

Das Vertrauen, das durch ein Trauma zerstört wurde - sei es durch den Missbrauch selbst, die Reaktionen anderer oder deinen Glauben an dich selbst - kann sich anfühlen, als ob jede Tür in deinem Haus klemmt und du niemandem mehr trauen kannst. Du hast vielleicht das Gefühl, festzustecken, hilflos oder hoffnungslos zu sein, dass es zukünftig anders sein wird.

Diese Gefühle sind angesichts der Erfahrungen, die du gemacht hast, absolut verständlich. Du hast dich an deine Situation angepasst, und Misstrauen kann in vielen Fällen, in denen dir jemand schaden könnte, sehr hilfreich sein, um dich zu schützen - zumindest unter bestimmten Umständen. Verletzlichkeit würde bedeuten, dass du dich der Möglichkeit aussetzt, dass man dir wehtut. Aber verletzbar zu sein bedeutet auch, dass du Liebe, Freude und Heilung erfahren kannst.

Nie sind wir so verletzlich, wie wenn wir jemandem vertrauen - aber paradoxerweise können wir weder Liebe noch Freude empfinden, wenn wir nicht vertrauen können.

—Walter Anderson

Interessanterweise bedeutete das Wort Hoffnung ursprünglich Vertrauen. Im Laufe der Zeit hat sich die Definition von Hoffnung weiterentwickelt und bedeutet nun, dass man etwas mit Zuversicht erwartet, und - mein persönlicher Favorit - dass man einen Wunsch mit Vorfreude hegt.2

Schätze die Hoffnung. Schätze das Heilen. Vertraue darauf, dass sich die Türen öffnen, die zu Sicherheit, Heilung und Wachstum führen. Wenn du auf der Suche nach Hoffnung bist, bist du nicht allein.3

 

*Namen wurden geändert.

Wenn du in einer Krisensituation steckst oder einfach nur mit jemandem reden möchtest, kannst du (in den USA) 1-800-273-8255 anrufen, und mit einem geschulten Krisenhelfer sprechen. Die deutsche Krisenhotline ist: TelefonSeelsorge® Deutschland - Sorgen kann man teilen 0800/1110111 · 0800/1110222 · 116123.

Krisenhotline für Österreich: 142
Dargebotene Hand - Schweizer Sorgentelefon: 143

(USA) Du kannst auch eine SMS an die Nummer 741741 schicken, um mit einem geschulten Berater zu sprechen.
(Kanada: Text 686868. UK: Text 85258).